Tempel der Stille. Bibliotheken – Architektur wie gedruckt.
Alle guten Worte dieser Welt stehen in Büchern. Und alles, was die Menschheit getan, gedacht, erlangt hat oder gewesen ist, liegt in den Seiten der Bücher aufbewahrt. Kostbare Schätze vieler Generationen, aufbewahrt in eigens erbauten Häusern, die sich ganz den Büchern und ihren Lesern widmen.
Text Othmar Walchhofer Fotos Kaufmann/Harms, Stadt Stuttgart Foto- und Textredaktion agenturengel Published kultuhr 42, 2013
Bibliothek findet Stadt – in Stuttgart
Die Bibliothek ist als wissendes Herz einer Institution vor allem dann lebendig, wenn über die Möglichkeiten der reinen Buchleihe hinaus ein soziales Engagement im Bereich des Bildungswesens gelebt wird. Dieses Konzept verfolgt die Stadtbibliothek Stuttgart mit seinem neu errichteten Hauptgebäude am Mailänder Platz und wurde dafür vom Deutschen Bibliotheksverband als „Bibliothek des Jahres 2013“ ausgezeichnet. CNN-Travel zählt den Neubau zu den „7 of the coolest libraries in the world“. In sozial schwierigem Umfeld am Hauptbahnhof sorgt der Entwurf des koreanischen Architekten Eun Young Li schlicht für Furore. 1,3 Millionen Medien treffen dort auf fast genauso viele Besucher. Der Kubus von 40 x 40 Metern (35 Meter Höhe) setzt dabei ganz bewusst auf kontemplative „Innensicht“. Der Zwischenraum der zweischaligen Fassade (in Stahlbeton gefasste Glasbausteine) mit seinen begehbaren Loggien und Fensterluken ist nicht nur ein Coup de Foudre für Besucher, sondern auch für die Mitarbeiter in der Betriebskostenabrechnung. Weitere Begegnungsstätten in Form von Arbeits- und Veranstaltungsräumen finden sich auf allen neun Geschossen. Die Philosophie der kubistisch-kristallinen Struktur setzt sich auch in der Innenarchitektur des Gebäudes fort – weitet sich zum grossen Galerielesesaal auf den Ebenen 4-9, dem alles bestimmenden Gebäudekern. Mit dem zurückgenommenen weissen Farbthema lässt Eun Young Li vor allem die Bücherwände sprechen. Die Melodie der Architektur klingt nahezu ausschliesslich auf den fliegenden Treppen und den smarten Balustraden an, die den Saal optisch in die Höhe heben. Die Flaniermeile wird so zur einladenden Begegnungsstätte, gedämpftes Tageslicht vom grossen Deckenfenster schafft eine kontemplative Leseatmosphäre. Auf allen Ebenen wird der Lesesaal von Arbeits- und Veranstaltungsräumen umschlossen, aufgewertet durch rund 4.000 Veranstaltungen im Jahr. Ein Tonstudio führt Besucher an die Musiktechnik heran, die hauseigene Graphothek widmet sich der Kunstvermittlung: Der Bestand zählt rund 2.500 entlehnbare Werke von 1.100 Künstlern, unter ihnen vor allem Absolventen der Stuttgarter Kunstakademie. Unter anderem können dort Zeichnungen, Radierungen, Collagen und Aquarelle für 8 Wochen ausgeliehen werden. Klingt nach Höhenflügen – für alle Sinne.
Europa schreibt Geschichte – in Melk
Kurz bevor sich die Donau in der Wachau durch die Gesteinsformation der Böhmischen Masse mit ihren Wäldern und Weinbergen auf alten Granit- und Gneisrücken bricht, passiert sie noch einmal den Leitgedanken des Benediktinerstiftes Melk: „ora et labora et lege“ und das seit 1089. Licht, Gold und Festlichkeit – im schmucken Hochbarock glänzt der Bibliothekstrakt des Stifts seit Beginn des 18. Jahrhunderts. 1731 gestaltete Paul Troger im Auftrag von Abt Berthold Dietmayr das Deckenfresko im grossen Bibliothekssaal. Ausgestattet mit ihren jeweiligen Insignien und begleitet von einer Schar Engel hüllen sich die Allegorien der vier Kardinalstugenden: sapientia (Weisheit), iustitia (Gerechtigkeit), fortitudo (Tapferkeit) und temperantia (Mässigung) vor einem pudrig blauen Himmel in den Paradiesgartenfarben einer glanzvollen Epoche. Troger erzeugte in seinen verkürzten Perspektiven mit blassem Salbeigrün, malerischem Zartrosé, warmen Ockertönen und dem leichten Gelb verblühender Jasminsträucher wirklichkeitsnahe Tiefenwirkung. In 282 Jahren haben die bewegungsreichen Figuren ihren Himmelstanz kein einziges Mal unterbrochen, sorgfältige Restaurierung durch die Einnahmen aus dem Tourismusbetrieb verwischen die Zeichen der Zeit. Wissenschaftlern und Benediktinermönchen stehen in der Stiftsbibliothek heute rund 100.000 Medien zur Verfügung, darunter 1888 Handschriften und 750 Inkunabeln (Frühdrucke bis 1500). In den 16 Regalen des grossen und kleinen Bibliothekssaals sind 16.000 Bücher nach „numerus currens“ sortiert. Zwischen den ausgewählten Bibeldrucken, theologischen Schriften, Lexika und Medien zu Jurisprudenz, Geschichte sowie Erd- & Himmelskunde versteckt sich aber auch so manch profaner Holzscheitel als Faksimile. Man muss ja nicht alles wissen. Der Einfluss der Geschichte wirkte direkt auf das Stift Melk und die Schriften seiner Bibliothek ein. Seit der Gründung konnte sich das Stift aber in zahlreichen Krisen und zwei Weltkriegen behaupten. 1926 sah sich das Kloster gezwungen, sein Exemplar der Gutenberg-Bibel zu veräussern, welches heute im Bestand der Universität Yale eingestellt ist. Auch die Blütezeiten des mitteleuropäischen Kulturraums sind im Stift penibel dokumentiert. Der Theologe Ignaz Franz Kaiblinger berichtet 1851 in seiner Geschichte zum Stift Melk über den Komponisten und Musiktheoretiker Johann Albrechtsberger: „Die Humanitäts-Studien vollendete Albrechtsberger in Melk, spielte schon damals meisterhaft die Orgel und verfertigte mehrere Fugen und andere Kirchenstücke.“ Albrechtsberger liess sich von den Werken Johann Sebastian Bachs u.a. in der Kontrapunktsetzung inspirieren und gab sein Wissen darüber an Ludwig van Beethoven weiter.
Kopenhagen sieht schwarz – vor dem Diamanten
Dänische Architektur ist kühn und kontrastreich. Bereits Søren Kierkegaard notierte in seinen Schriften: „Es gehört zu den Unvollkommenheiten unseres Wesens, dass wir erst durch den Gegensatz hindurch müssen, um zu erreichen, was wir erstreben.“ Nachdem die Stadt Kopenhagen im Verlauf der europäischen Geschichte ihre Position als Handelszentrum stets verteidigen konnte, war es der Stadtplaner Peter Bredsdorff, der 1947 die Stadtentwicklung fingerförmig (die Zwischenräume blieben als Grünlandzonen erhalten) ins Umland verlagerte. Das Suburbanisierungskonzept war so erfolgreich, dass es 2006 in das dänische Kulturerbe eingegliedert wurde und bis heute vom dänischen Umweltministerium verfolgt wird. Allerdings verlor der Hafen von Kopenhagen immer mehr an Bedeutung, woraufhin die Stadt in den 1990er Jahren mit zahlreichen Neubauten eine Frischzellenkur einleitete. Das historische Zentrum von Kopenhagen bekam ein neues Gesicht und die polierten Granitplatten auf den Fassaden des „Black Diamond“ leiteten diese Entwicklung ein. Der Standort neben dem dänischen Regierungssitz Christiansborg könnte prominenter nicht sein. Das Architekturbüro Schmidt, Hammer & Lassen gestaltete für die Schätze der dänischen Nationalbibliothek (immerhin die grösste Büchersammlung Nordeuropas, darunter ein Exemplar der Gutenberg-Bibel und Originalschriften des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard) einen Würfel, der sich direkt dem Fahrwasser des Hafenkais zuneigt. An dessen polierter Aussenfront spiegeln sich nun das Leben und die Lichter einer modernen skandinavischen Metropole – ganz ohne Verblendung. Über einen Skywalk ist der Kubus mit den historischen Räumen der Nationalbibliothek verbunden; durch ein verglastes Atrium gelangt das kühl-nordische Licht in den Gebäudekern, allerdings ohne dabei das Gemüt zu verwittern. Wie bei Norman Fosters Entwurf kann man auch hier das Geschehen über geschwungene Balkone verfolgen. Abgeschirmt von der kulturellen Vitalität des Gebäudes befinden sich die beiden Lesesäle in den mittleren Etagen.