Seensucht
Es gibt viele Herangehensweisen an den Bodensee: eine historische, eine biologische, eine geologische, eine romantische. Die schönste jedoch ist, sich einfach an sein Ufer zu setzen und zu schauen. Oder auf eine Wolke.
Text Michael Hausenblas Fotos Markus Gmeiner, Michael Hausenblas Foto Art Direktion Eva Engel Text- und Fotoredaktion agenturengel Published tRAUM 01, 2014
Hoch oben von einer Wolke aus betrachtet, sieht der Bodensee aus wie ein gro.er, friedfertiger Fisch. Die Insel Lindau – ihr Name bedeutet ursprünglich „Insel, auf der Linden wachsen“, könnte das Auge des Fisches sein. Wie diese Perle in den See kam, ist leicht erklärt: Sie ist nichts anderes als eine eiszeitliche Ablagerung, die von der Wissenschaft mit dem putzigen Namen „Drumlin“ bedacht wurde. Der Untersee und der Überlingersee sind die Flossen dieses Fisches, in der Tiefe zwischen Friedrichshafen und Romanshorn liegt sein dicker Bauch, der mit 50 Milliarden Kubikmetern Wasser gefüllt ist und die Bregenzer Bucht, die könnte sein Maul sein. Manchmal hat es den Anschein, als fräße dieser Fisch Frittatensuppe, nämlich dann, wenn der starke Westwind mit seinen gekräuselten Wellen Unmengen von Treibholz hierher bläst. Zumindest sieht es von dort oben so aus. Zu dieser Zeit am Ufer spazieren zu gehen wird für den passionierten Treibholzsammler zur prächtigen Schatzsuche. Klein und zierlich werden die Holzstücke angespült, aber auch grob und mächtig, zerfurcht oder glatt, als hätte sie jemand geschliffen, diese Weitgereisten. Geheimnisvoll sind sie, so wie die Geschichte dieses Sees, der für jeden, der ihn erleben darf, ganz eigene Botschaften parat hält.
Prachtvoll beschreibt ihn der Schriftsteller Horst Wolfram Geißler im wohl charmantesten Bodensee-Roman rund um den liebenswerten Filou Augustin Sumser. „O, Du gläserner, grünblauer, zehntausendjähriger See! Hier und da und dort wiegst du deine Wellen noch um die Reste der Pfahlbauten, schwarze Stockzähne der Urgroßmutter Erde.“ Dieser wundervolle Ort, diese einstige Wiege mitteleuropäischer Kultur, deren Wiegenkind zumindest geopolitisch längst weiterzog, lässt sich aber auch anders fassen. Man denke an sommerliche Momente, in welchen man abends vom alten Bregenzer Militärschwimmbad „Mili“ in Richtung Westen blickt, wo der Turm des Konstanzer Münsters gerade seine Spitze in die untergehende Sonne piekst, während der Dampfer Hohentwiel kleine Rauchwölkchen in das Abendrot rülpst. Auf der Bühne davor dümpeln ein paar Segelboote gleich einer Entenfamilie in der Flaute vor sich hin und Babywellen spielen mit kleinen Kieselsteinen am Ufer, als wären diese Murmeln. Dabei entsteht ein Geräusch, das beruhigender kaum sein kann. Wasser hat eine ungeheure Anziehungskraft. Wir verbringen die ersten neun Monate unseres Lebens umgeben von Wasser. Wasser ist ein Naturerlebnis. Wenn es nicht da ist, fehlt es uns. Auch darauf beruht die Sehnsucht danach, in der Nähe von Wasser wohnen zu wollen. Im Wasser erlebt man sich anders, auch leichter. Es erzeugt positive Emotionen, ein Gefühl von Verbundenheit. Wasser ist ein Tank für vieles, für Frieden, Bewegung, Ruhe. Das schafft der Blick auf eine Hausmauer in einer engen Straße nicht. Was für ein Glück also für all die Menschen, die rund um den Bodensee ein Zuhause finden durften, an diesem Tank für die Seele. Wasser gilt als Ursprung, als Quelle von Kraft, es ist ein Beruhigungsmittel und strotzt nur so von anderen symbolischen Bedeutungen – doch Wasser ist nicht Wasser und der Bodensee mit seinen ungeheuer mannigfaltigen Stimmungen, seinen geschichtsträchtigen Orten ein ganz besonders faszinierendes Nass. Bei aller Unbeschwertheit, die er seinem Besucher beschert, ist er nicht leicht zu fassen, dieser See mit den vielen Namen: Plinius der Ältere nannte ihn Lacus Raetiae Brigantinus, nach dem Konzil von Konstanz im 15. Jahrhundert sagte man Lacus Constantinus zu ihm und manche nennen ihn bis heute Schwäbisches Meer. Apropos Etymologie: Die Einwohner von Bregenz werden liebevoll Seebrünzler genannt, ein durch Geburt ererbter Titel, auf den die Seeanrainer stolz sind. Mannigfaltiger noch als seine Namen, als die Fischarten, die in ihm ein Heim finden oder die Vögel, die um ihn nisten, sind die Stimmungen, die er im Kanon mit Wind, Wetter und Jahreszeiten zaubern kann. Egal ob es der eisige Wintersturm ist, das bleierne Wasser an einem heißen Augusttag, die Abendstimmung, wenn die Wasserratten ihre Badetücher zusammenpacken und andere nach getaner Arbeit noch auf einen Schwumm in ihn eintauchen. Er ist nie derselbe, dieser See und doch kann man sich auf ihn verlassen, egal ob man in sein mitunter magisches Grün stiert, das zu einem wasserhaltigen Narrenkastl wird, das die Sinne so angenehm fesselt oder man nach der Dämmerung rüber nach Lindau blickt, wenn sich die mit unzähligen Lichtlein geschmückte Insel wie eine Geburtstagstorte aus dem dunklen See abhebt. Das vielleicht Beste, was diesem großen Wasser gelingt ist, bei jedem Wiedersehen dieses Gefühl zu wecken, als begegne man einem alten Freund, einem guten alten Freund. Im Büchlein „Der liebe Augustin“ heißt es auch: „Wie weiche, grüne Ballen standen die Wälder an den Ufern, die Alpen strahlten in ihrer hellsten Erhabenheit, die zärtlich um den Nachen spielenden Wellen sangen jene leisen und süßen Gesänge, die der Augustin seit seiner Kindheit im Herzen trug. Niemals hatte er inniger gefühlt, dass dieser See sein war.“ Doch damit ist der Augustin schon lange nicht mehr allein.
Michael Hausenblas
Michael Hausenblas wurde 1969 in Bregenz geboren. Seine ersten Sommer verbrachte er an der Pipeline, die nächsten beim Yachtclub Bregenz, wo er seine Liebe zum Segeln entdeckte. Einen Sommer lang war er zudem Matrose bei der Bodensee-Schifffahrt. Heute lebt er als Redakteur der Tageszeitung DER STANDARD in Wien, wo er den Bodensee immer wieder gehörig vermisst.
© Michael Hausenblas