Eine kleine Laufgeschichte Bis zum Unmöglichen und darüber hinaus
Wir Menschen tun nichts ohne Sinn und Zweck. Manche Absicht mag sich im Unterbewusstsein verbergen. Warum wir dazu neigen, das zu tun, was wir nicht tun sollten und das zu unterlassen, was wir tun sollten, ist eines der großen Geheimnisse der menschlichen Existenz.
Text Dr. Roland Wölfle Illustration Eduard Gurevich Foto- und Textredaktion agenturengel Published Rickatschwende Magazin mayr 02, 2019
Die besten Erfolge stellen sich ein, wenn es zu einer Verbindung aus einem inneren Bedürfnis und einem offensichtlichen Nutzen kommt. Ich möchte an dieser Stelle eine Erfahrung teilen, wie es möglich ist, etwas zu verwirklichen, das zunächst unmöglich erscheint und dann doch Realität wird. Stellvertretend für alle möglichen sportlichen, aber auch beruflichen oder künstlerischen Ambitionen, kann ich vom Laufen sprechen.
Ohne Motivation geht nichts
In der Motivationsforschung unterscheiden wir zwischen einer intrinsischen Motivation, die von innen heraus entsteht, und einer extrinsischen Motivation, die von außen kommt, uns aufgezwungen wird, und in der Regel keine nachhaltigen Effekte zeitigt. Wir haben besonders dann gute Chancen, eine effektive intrinsische Motivation zu entwickeln, wenn unsere Tätigkeit Spaß und Freude macht, unser Selbstwertgefühl stärkt und soziale Anerkennung bringt. Fast vierzig Jahre meines Lebens konnte ich nicht das geringste Interesse an sportlichen Tätigkeiten verspüren und ich hätte gute Chancen gehabt, zum jährlichen Nicht-Sportler des Jahres gewählt zu werden. „No Sports!“ war meine Devise, die ich bei jeder Gelegenheit zum Besten gegeben habe. Skifahren etwa war mir ein Gräuel, körperliche Anstrengung war mir zuwider und in irgendeinen Sportverein zu gehen zu aufwendig und schade um die Zeit.
Kopflastigkeit verhindert Balance
Mit fortlaufendem Alter haben sich dann Zweifel eingeschlichen, denn mein Beruf war sehr kopflastig. Ich begann zu spüren, dass ich etwas für den Körper tun sollte. Plötzlich entstand in meinem Inneren die Forderung: „Du musst etwas tun!“ Aber was?
Ich kaufte mir ein Mountainbike, ging ins Hallenbad, besorgte mir verschiedene Folter- und Fitnessgeräte sowie eine Langlaufausrüstung – frustrierende Erfahrungen, ich habe alles nur lustlos betrieben. Die Dinge sind wieder verschwunden, der Frust ist geblieben. Dann kam das Jahr 1994 und ein Seminar mit einem Gruppenleiter, der vor einer Mittagspause ankündigte: „Ich geh’ jetzt eine Runde joggen.“ Das könnte ich doch auch, dachte ich mir dann, und nach meiner Rückkehr nach Hause, an einem eisigen Sonntagabend im Februar, war ich ganz aufgekratzt, fand irgendwelche verknautschten Semperit-Turnschuhe und machte mich in der Dunkelheit auf den Weg Richtung Bodensee. Nach wenigen Hundert Metern bin ich vor Erschöpfung zusammengebrochen. Seither laufe ich jeden Tag. Ich habe mehrere City- und Bergmarathons absolviert und ich erfreue mich einer guten Fitness und bester Gesundheit. Was ist da passiert?
Große Erfolge sind die Summe von kleinen
Fragen Sie mich nicht, was an jenem Abend geschehen ist, ich weiß es nicht, aber irgendetwas in mir muss gespürt haben, dass das jetzt das Richtige für mich war. Und ob es jetzt ein Rennrad, Kletterhaken oder Tennisschläger sind: Es gibt sicher für jeden etwas, das passt – in jedem Alter. Weil mir zunächst sportlicher Ehrgeiz völlig fremd war, bin ich nicht in Verlegenheit gekommen, zu schnell zu viel zu wollen. Derartiges habe ich bei manchen Personen mitbekommen, die zu intensiv mit dem Laufen begonnen haben – nach wenigen Wochen hatten sie Schmerzen und ihre Gelenke waren ruiniert. Wie sonst auch: Bei jedem Aufbautraining gilt es die richtige Dosis zu finden. Gerade beim Ausdauersport ist wohl nichts wichtiger als Geduld. Mich hat vor allem die Neugier weitergebracht. Ich bin nach einigen Tagen dann doch einmal über das Hallenbad hinausgekommen, dann kam der Yachthafen, und dann sah ich eine Brücke. Mir war klar, dass ich wieder umkehren musste, weil die Kondition nicht für mehr gereicht hat. Aber nach einer Woche schaffte ich es bis zur Brücke und darüber, dann bis zum Kloster und dann bis zum Fluss und dann bis zu einer Wohnanlage; und nach neun Monaten waren es 10 km, die ich laufen konnte. Innerhalb des ersten Jahres stellten sich so viele positive Veränderungen ein, dass es zu einer Selbstverständlichkeit wurde, am Morgen eine Stunde früher aufzustehen und eine Runde zu drehen. Ich habe über 10 kg abgenommen, mein körperliches Wohlbefinden hat sich massiv gebessert und mit dem Rauchen habe ich auch noch aufgehört. Es hat mich behindert.
Dann kam mir eine verrückte Idee und ich sagte mir: Du hast jetzt 10 km geschafft. In 3 Jahren wirst du 40 und dann könntest du doch 40 km laufen, und das wäre dann ein Marathon. Gelaufen bin ich ihn dann schon mit 38. Ein konkretes Ziel, wie einen Marathon zu schaffen, war sicherlich hilfreich und machte es leichter, auch einmal einen Einbruch zu überstehen.
Damals habe ich auch erfahren, wie hilfreich eine Gruppe sein kann. Es hat mir sehr geholfen, Anschluss an eine Laufsportgemeinschaft zu finden, mit regelmäßigen Gruppenläufen, vielen Tipps und einem Stück Gemeinschaftsleben. Schließlich gibt es ja auch das Bedürfnis, mit anderen über sein Thema zu sprechen, aber für Nicht-Läufer ist das eher nervig. Meine Begeisterung hält sich ja auch in Grenzen, wenn ich in eine Gruppe von Radlern gerate, die sich ohne Ende über Schaltungen und was auch immer austauschen können, wovon ich schlicht und ergreifend einfach nichts verstehe.
Sich an das Unmögliche heranwagen
Jemals einen Marathon laufen zu können, war für mich früher eine völlig absurde Vorstellung gewesen. Gleichzeitig war ich überrascht, wie schnell das vermeintlich Unmögliche realistische Konturen bekommen kann, wenn man sich auf einmal auf den Weg macht. Ob solche Entschlüsse in der Stunde eines irrationalen Endorphinrausches gefällt werden oder sich aus vernünftigen Überlegungen ergeben, sei dahingestellt. Es schien wie ein Nebel, der sich plötzlich lichtete und einen Ort zeigte, von welchem ich wusste: Ich weiß zwar nicht wie, aber da will ich hin und das kann ich auch schaffen. Natürlich war es für jemanden wie mich alles andere als leicht. Es gibt Naturtalente, die machen so etwas mit links, aber so jemand bin ich nicht. Es war für mich harte Arbeit und immer wieder mehr als grenzwertig, aber ich wusste in jeder Sekunde, wozu ich es machte und schließlich gab es auch einen Lohn: Das Durchqueren der Ziellinie nach 42,1 Kilometern beim Vienna City Marathon 1996. Und das hat mich so tief berührt, dass ich in Tränen ausgebrochen bin. Nie werde ich Momente wie diesen vergessen.
Die Weisheit des Körpers
Diese intensiven bewusstseinserweiternden Erlebnisse sind nicht beliebig wiederholbar. Mit zunehmendem Alter hat für mich der Begriff „Grenzerfahrung“ eine andere Bedeutung bekommen, nämlich die Erfahrung meiner Begrenztheit. Die Leistungsfähigkeit ist endenwollend und als ich Gefahr gelaufen bin, vom Besenwagen überholt zu werden, war für mich der Zeitpunkt gekommen, mich von den Laufevents zu verabschieden. Ich habe die Botschaft meines Körpers verstehen können und so wurde das Laufen auch in der Abwärtsbewegung zu einem guten Lehrmeister. Im Beruf kommt mitunter ebenfalls die Zeit, in welcher es nicht mehr nur bergauf geht, in welcher ein Plateau erreicht wird und wo wir gut beraten sind, langsam in den Landeanflug überzugehen. Die wunderbaren Erfahrungen werden bleiben, aber ich muss im wahrsten Sinne des Wortes kürzertreten und bin dankbar, dass ich noch meine Runden in unserer schönen Natur drehen kann – auch gemeinsam mit Freunden, zu denen nach all den gemeinsamen Kilometern eine tiefe Beziehung entstanden ist.
Und wer weiß, vielleicht habe ich irgendwann einmal wieder Lust, Zeit und Laune, ein bisschen zu trainieren und zu schauen, was noch geht. In Rom zum Beispiel bin ich noch nicht gelaufen…