RED – On a bad day there is always a lipstick. Lippen als Bekenntnis.
Knallrot, Pink oder Nude? Mit Lippenstiften werden Statements gesetzt.
Das war zu allen Zeiten so. Die Frage ist: Was steht heute wofür?
Text Karin Pollack Fotos LANCÔME, CHANEL, Yves Saint Laurent, Anna Subbotina Bild- und Textredaktion agenturengel Published kultuhr 44, 2014
Anekdoten machen das Leben schön. So auch die Liebesgeschichte einer Frau, die sich selbst ganz offenherzig als Beauty-Victim bezeichnet. Eine unglückliche Beziehung macht ihr das Leben schwer. Um sich ihre Sorgen zu vertreiben, streift sie gerne durch Parfümerien. Die dort wie Zinnsoldaten aufgereihten Lippenstifte suggerieren Ordnung, Vielfalt und die Wahlmöglichkeit. Das Rausschrauben, kurz ins Licht halten und am Handrücken ausprobieren beruhigt die Nerven. „Ich kenne meine Farben“, sagt die Unglückliche zur Verkäuferin, die sie zu einem Hellorange vom Schminkprofi M.A.C überreden will. Die Farbe steht ihr tatsächlich hervorragend zu Gesicht. „Das Schönste daran war, der Name der Lippenstiftfarbe ‹On hold› passte zur Lebenssituation“, sagt sie und ist überzeugt, dass ihr „On hold“-Kauf zum Happy End ihrer Geschichte beigetragen hat.
Der Lippenstiftindex
Lippenstifte sind Stimmungssache. Es gibt Hunderte unterschiedliche Marken, Tausende Farben und viele Geschmacksrichtungen. Rein wirtschaftlich betrachtet sind Lippenstifte krisenstabile Umsatzbringer. Schätzungsweise werden in Deutschland 64 Millionen Euro dafür ausgegeben – und zwar unabhängig von der ökonomischen Gesamtwetterlage.
Leonard Lauder, Chef des amerikanischen Estée Lauder-Konzerns, hat vor einigen Jahren aus diesem Phänomen sogar einen Fachbegriff geprägt. „Lippenstiftindex“ nannte er die Verkaufszahlen für Lippenstifte und erkannte darin einen Indikator für die Konjunktur.
Dieses Phänomen hat Geschichte. Mit dem Slogan „On a bad day, there is always a lipstick“ hatte der Kosmetikkonzern Revlon in den 1930er Jahren geworben und damit wohl den Nerv der konsumorientierten Amerikanerinnen getroffen. Während des Zweiten Weltkrieges fragte die amerikanische Zeitschrift „Vogue“ ihre Leserinnen, ob man sich in den krisengeschüttelten Zeiten Gedanken über das eigene Aussehen machen dürfe. Ja, man dürfe, war die klare Antwort. Egal also, ob das Metall für die 1928 erfundenen Lippenstifthülsen auch für Patronen gebraucht hätte werden können, die grossen Rüstungskonzerne animierten ihre Arbeiterinnen, Lippenstift zu tragen, um die Arbeitsmoral zu fördern. „Patriot Red“ und „Victory“ hiessen die damals meistverkauften Farben.
60 Jahre später, nach den Anschlägen auf das World Trade Center, bemerkte Leonard Lauder, dass vor allem die Umsatzzahlen für Lippenstift nach oben schnellten – sein Konzern verkaufte doppelt so viele wie sonst und der Lippenstiftindex hatte wieder einmal recht. Als in den kommenden Jahren die Börsen nach unten rasselten, blieben die Verkaufszahlen stabil. Eine These: Auch wenn immer weniger Frauen Geld für teure Kleidung haben, einen Lippenstift für ein eindrucksvoll geschminktes Gesicht können sich die meisten immer noch leisten.
Ikone für Schönheit
Apropos Geschichte: Die Farbe auf den Lippen der Frauen hat eine jahrtausendealte Tradition. Die älteste Lippensalbe der Welt haben Archäologen in der sumerischen Stadt Ur entdeckt und auf 3500 vor Christus datiert. Der schönste Beweis, dass sich Frauen auch schon 1350 vor Christus schminkten, ist die Büste der Nofretete, die heute im Nordkuppelsaal des Neuen Museums in Berlin ausgestellt ist. Braunrot dürfte Nofretetes bevorzugte Farbe gewesen sein, weil sie gut zu ihrer Hautfarbe passte.
Die Griechinnen, so viel weiss man, fanden Lippenfarbe vulgär. Wer sich den Mund rot färbte, galt als Prostituierte. Während im kirchlich geprägten Mittelalter und danach Eitelkeiten eher verachtet waren, wurde Schminke im 17. Jahrhundert wieder populär. Mit ihrem weiss gepuderten Gesicht und dem knallroten Mund ist Königin Elizabeth I. von England bis heute eine Ikone, auch am französischen Hof gehörte Farbe auf den Lippen zum guten Ton. Russlands Kaiserin Katharina I. soll sich – so wird kolportiert – einer ganz eigenen Technik für ihre roten Lippen bedient haben. Sie befahl ihren Dienerinnen, sehr fest an ihren Lippen zu saugen und dabei leicht zuzubeissen.
Das machte sie rosig. Katharina die Grosse wusste intuitiv, dass rote Lippen ein Zeichen für gute Durchblutung waren und dem männlichen Geschlecht Gesundheit und damit Reproduktionsfähigkeit suggerierten. „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund, ich schrie mir schon die Lippen wund, nach deinem weissen Leib, du Weib“, hatte schliesslich schon Francois Villon im 15. Jahrhundert gedichtet.
Lippenstifte im heutigen Produktverständnis kamen erst Ende des 19. Jahrhunderts auf. Konkret stellten Parfumeure aus Paris 1883 auf der Weltausstellung in Amsterdam den sogenannten „Stylo d’amour“ vor. Diese in Seidenpapier eingewickelten Röllchen waren aus Rizinusöl, Hirschtalg und Bienenwachs geformt. Diese mit Läuseblut gefärbte Masse, die zu Anfang ihrer Form wegen noch „Saucisson“, also Würstchen, genannt wurde, machte Furore.
„Zauberstab des Eros“ nannte die französische Schauspielerin Sarah Bernhardt dieses Accessoire und erkannte mit dieser Bezeichnung die tiefere Bedeutung von Lippenstiften. Die menschliche Phantasie sieht in roten Lippen nämlich das erregte weibliche Genital, sagen Psychoanalytiker. Weniger tiefgründig, aber schlichtweg effektvoll wirkten geschminkte Lippen in den damals gerade aufkommenden Stummfilmen. Den endgültigen Durchbruch feierte der Lippenstift dann durch Stars wie Clara Bow, Theda Bara oder Mae Murray – Letztere schminkte ihre Lippen schwarz und prägte den Begriff des Bienenstichmundes. Dieser war ein Schminktrick des Kosmetikpioniers Max Faktor. Er überschminkte den Mund mit Make-up und malte nur einen kleinen Kussmund in der Mitte – auf diese Weise hielt der geschminkte Mund auch den starken Lampen in den Filmstudios stand.
Symbol für Selbstbewusstsein
Josephine Baker, Asta Nielsen: Spätestens seit den 1920er Jahren wurde der Lippenstift ein fixes Mode-Accessoire und Symbol eines neuen Selbstbewusstseins. Suffragetten, die für das Wahlrecht in den USA demonstrierten, trugen ihn selbstbewusst. Ihre Message: eine stolze und kämpferische Identität. Dass die neue, in den USA erfundene Verpackung eines Lippenstifts zum Rausdrehen irgendwie auch wie ein Phallussymbol funktionierte, bemerkten eher nur die Psychoanalytiker. Helena Rubinstein, Maybelline, Estée Lauder: Jede Kosmetikfirma, die etwas auf sich hielt,
versuchte die andere mit neuen Drehhülsen, Farbnuancen und Versprechungen zu übertreffen – daran hat sich bis heute auch wenig verändert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Lippenstifte als begehrte Geschenke von US-Soldaten nach Europa. Die Deutschen machten ihn schliesslich selber. Die deutsche Schauspielerin Hildegard Knef warb für den ersten sogenannten Volkslippenstift (VL) und fühlte sich ohne nackt, wie sich ihr damaliger Visagist René Koch erinnert: „Hilde sagte immer zu mir: „Mach mir mal Farbe auf die Lippen, damit ich weiss, wo vorne ist.““ Koch, der heute in Berlin-Wilmersdorf ein Lippenstiftmuseum betreibt, erinnert sich auch an den Spruch, den die Knef ganz besonders gerne hörte: „Rote Lippen machen eine schmale Taille.“
Was genau Rot ist, ist eine kulturelle Konvention. Italienerinnen zum Beispiel tragen gerne rotorange Töne, Französinnen hingegen tendieren zu Feuerrot, Engländerinnen mögen Rosa, Asiatinnen Pink. In fast keinem anderen Land der Erde wird so viel Lippenstift in Feuerrot verkauft wie in Frankreich, weiss man beim Kosmetikkonzern Shiseido. Zwar wechseln die Farbkollektionen jede Saison, die roten Klassiker jedoch bleiben im Programm.
Von Gloss bis Lack
In den 1980er Jahren veränderte sich das Lippenstiftgefühl noch einmal: Lipglosses eroberten den Markt. «Wenn du tagelang nicht geschlafen hast und aussiehst wie das Ungeheuer von Loch Ness, gibt es nur eines, was dafür sorgt, dass du dich wieder wie ein Mensch fühlst: Glanz auf den Lippen», sagte Bianca Jagger, die Ex-Frau des Rolling Stones-Sängers, einmal. Dann kamen Lippenkonturenstift, später Lippenpinsel. Heute sind Lippenstifte Hightech-Produkte. Polymere sorgen für extrem lange Haltbarkeit, Kügelchen und Glitzerpartikel für nass glänzende Münder. Aus Lippenstift ist Lippenlack geworden.
In den letzten Jahren haben sich auch Modedesigner auf Lippenstifte verlegt, Tom Ford zum Beispiel oder der Schuhdesigner Christian Louboutin. Sein Markenzeichen, die knallroten Sohlen seiner atemberaubenden Stöckelschuhe, finden das farbliche Pendant nun auch auf den Lippen.
Hightech gilt auch für die Inhaltsstoffe. Lippenstift-Hersteller werben mit Boost- und Volumeneffekten, salopp werden sie deshalb gerne auch als „Push-up-BH“ für die Lippen bezeichnet. Wer Erdölprodukten wie Paraffinen (sie verhindern, dass Lippenstifte ranzig werden) eher skeptisch gegenübersteht,
kann heute auf eine breite Auswahl an biologisch zertifizierten Produkten zurückgreifen. Schliesslich essen Frauen – so haben Schätzungen ergeben – im Laufe ihres Lebens rund 3,5 Kilo Lippenstift. Dr. Hauschka zum Beispiel hat sein Lippenstiftsortiment unlängst erweitert und nun auch sehr kräftige Farben im Programm. Wer den Geschmack von Pfefferminze will, hat bei Aveda organische Lippenfarben zur Auswahl.
Der allerneueste Schrei sind alternative Verpackungen: Statt Drehhülsen sehen Lippenfarben etwa bei Clinique, Sisley oder L’Oréal seit kurzem wie dicke Farbstifte für Kinder aus – bei heissen Temperaturen schmelzen sie weniger leicht.
Toll und mit Sendungsbewusstsein müssen die Namen der Lippenstifte aber auf jeden Fall bleiben: „Intime“ und „Confident“ sind in der Saison 2014/15 die Namen der zwei halbtransparenten Glosses von Chanel. „Nude“-Töne, also Lippenstifte, die den Mund fast ungeschminkt wirken lassen, stehen Frauen mit perfekter Haut – oder eben perfektem Make-up – gut zu Gesicht. Für alle, die mutige Akzente setzen wollen, hat Chanel einen tiefschwarzen Johannisbeer-Ton namens „Aurora“ neu im Programm, M.A.C eine Rocky-Horror-Picture-Kollektion für Halloween. Für Liebessehnsüchtige gelungen sind auch die Namen bei Lancôme: „Amnesia“ und „Grand Amour“. Es sind weniger Produktnamen als Wünsche – darum geht es bei Lippenstift schon seit Jahrtausenden.